Immer wieder montags: Expertenjoker verliert
Gestern war mal wieder Montag. Das ist an sich nichts Besonderes und kommt mit ähnlicher Regelmässigkeit vor wie die abendliche Fernsehshow, die dann auf einem luxemburgischen Fernsehsender mit drei Buchstaben läuft.

Dass gestern zum ersten Mal in 15 Jahren die richtige Antwort gegen den Willen der Kandidatin durchgedrückt werden musste, ändert nichts am Grundkonzept der Sendung: Es sitzt ein schlacksiger Moderator einem durch Vorausscheidung qualifizierten Kandidaten gegenüber, der trotz nervositätsbedingter geistiger Vollabschaltung die Hoffnung hat, als Millionär aus der Sendung zu gehen. Das läuft nicht nur in Luxemburg so, es funktioniert in den meisten Ländern Europas, und natürlich auch (und zu allererst) in den USA. Was passiert nun, wenn der Kandidat (Kandidatinnen können das ähnlich gut) in einem für den weiteren Verlauf entscheidenden Moment sich seines temporären intellektuellen Komas bewusst wird – dann also, wenn es wirklich um die Wurst geht und er grad nix weiss?

Er fragt die sorgfältig ausgewählte Person seines Vertrauens, zieht also den Expertenjoker – und verliert.

Warum?

Der Publikumsjoker wäre die weitaus bessere Wahl gewesen. Das Publikum liegt zu 91%, die Experten gerade mal mit 65% richtig. Unvorbereitete Durchschnittsleutchen gegen immerhin ausgewählte Experten mit 91 zu 65%? Etwas überraschend. Berechtigter Einwand: nicht gerade eine wissenschaftliche Erhebung. Deshalb ein weiteres Beispiel, bei dem immerhin schon ein Wissenschaftler beteiligt war – eine Herbstgeschichte übrigens:

Francis Galton, ein englischer Forscher, der sich mit Fragen der Entwicklung von Arten und der Vererbung beschäftigt, stolpert auf einer landwirtschaftlichen Ausstellung im Herbst des Jahres 1906 an einen Wettbewerb heran: Passanten sind aufgefordert, das Gewicht eines ausgestellten Ochsen zu schätzen und auf einem Zettel zu notieren. Den besten Schätzungen winken Preise. Für Galton kommt das Spektakel gerade recht: Die Meinung und das Treiben der breiten Masse sind ihm suspekt, der durchschnittliche Mensch in seinen Augen nicht dazu in der Lage, Beurteilungen und Entscheidungen von Bedeutung zu treffen. Er ist überzeugt: Nur Vereinzelte, Herausragende sind mit den dafür notwendigen vererbten Fähigkeiten ausgestattet – und nur solche Vereinzelte sollten deshalb auch die entsprechende Stellung in der Gesellschaft einnehmen. Um diese Theorie mit aktuellen Zahlen zu untermauern, lässt sich Galton im Anschluss an den Wettbewerb die rund 800 Schätzzettel aushändigen, wertet sie aus – und stellt befriedigt fest: Es gibt himmelweite Unterschiede zwischen den Schätzungen. Ein klarer Beweis für die Orientierungslosigkeit der Masse. Er experimentiert noch ein wenig mit den Ergebnissen, untersucht die Verteilung der Schätzungen, unterteilt sie in Gruppen, errechnet Intervalle – und bildet schliesslich den Durchschnitt aller Schätzungen. Vermutlich rechnet er das dabei entstandene Ergebnis drei bis vier mal nach. Vielleicht auch öfter – bringt aber nichts: Der Ochse wiegt 1’197 Pfund; der Durchschnitt der Schätzungen liegt bei 1’198 Pfund. Nicht eine einzige individuelle Schätzung ist gleichermassen präzise wie die Schätzung der Masse. The wisdom of the crowds – ein zum ersten Mal entdecktes Phänomen.

Diesem “halbwissenschaftlichen” Experiment folgten im Laufe des 20. Jahrhunderts eine ganze Reihe wissenschaftlicher Versuche, allesamt mit vergleichbaren Resultaten: Unter den richtigen Voraussetzungen ist das Urteil einer grossen, heterogenen Menge mit das Beste, was man bekommen kann.

Das Phänomen ist also schon eine Weile bekannt – ausser in der Politik und an den Finanzmärkten waren Anwendungen im grösseren Stil aber lange nicht zu beobachten. Entscheidungen in der Wirtschaft, strategische wie operative, werden nach wie vor von Einzelnen oder von sehr kleinen Gruppen getroffen. Wieso ist das so? Weil nur vereinzelt Herausragende mit den dafür notwendigen vererbten Fähigkeiten ausgestattet sind…! Vermutlich. Und so bleibt die Masse auf ihrem gesammelten Wissen, auf aller Erfahrung, auf jahrzehnteralter Praxis sitzen – einfach, weil sie niemand fragt.

Und doch gab’s Bewegung in letzter Zeit: Die Meinungen unzähliger Menschen sind plötzlich greifbar und ganz real vorhanden. Zu allen möglichen Themen, Fragen und Problemen. Meistens sind sie einfach da obwohl sie gar niemand eingefordert hat. Sie stehen in Foren, Blogs, Kommentaren und verbreiten sich mit der Geschwindigkeit der Datenleitungen. Das Besondere: Sie machen dabei nicht mehr halt vor den Grenzen von Unternehmen, Religionen, Staaten und sonstiger Organisationen – von Büroräumlichkeiten und Arbeitszeiten ganz zu schweigen. Ein äusserst interaktiv gewordenes Internet macht’s nicht nur möglich – es bringt’s mit sich, es drängt’s uns förmlich auf!

Und plötzlich verliert eine alte Weisheit (“Even the best company has to accept that most of the best guys work for somebody else”) ihren Stachel: Nicht wichtig, wo und für wen jemand arbeitet, sondern nur, wem er sein Wissen zur Verfügung stellt. Das muss nicht mehr völlig deckungsgleich sein. Und überhaupt scheint der einzelne, herausragende Experte an relativer Bedeutung zu verlieren – auch wenn es heute noch gängige Praxis ist, den Top Shots hinterherzulaufen (und exorbitante Summen für ihre anschliessende Gegenwart zu bezahlen). Es fliesst plötzlich Know-how, Erfahrung und Wissen losgelöst von bestehenden Strukturen von irgendwelchen Absendern zu irgendwelchen Empfängern. Damit werden “virtuelle” Wertschöpfunsketten geschaffen, die sich so rasch bilden, entwickeln und wieder verschwinden, dass sie mit den Massstäben klassischer Organisationsmodelle nicht greifbar sind.

Was bedeutet das für die Unternehmenswelt?

Wie immer bei bahnbrechenden Innvationen wird es wohl zwei Pole geben, die den äusseren Rand der Verteilung bilden: Die Proaktiven, die nur auf die Veränderung gewartet haben – und die Reaktionären, für die nur eine tote Innovation eine gute ist. Und dazwischen gibt’s das übliche Mittelfeld: solche, die zu langsam sind, um von den Entwicklungen wirklich zu profitieren, die aber gerade noch schnell genug sind um nicht völlig von ihnen weggespült zu werden.

Ihr Problem. Denn es liegt ein riesiges Potenzial in dieser Innovation. Es bestehen heute Möglichkeiten der Einbindung von Aussenstehenden in die Entwicklung neuer Produkte und Dienstleistungen, in die Evaluation von Bestehendem, in die Prognose von Marktentwicklungen und in die Entscheidungsprozesse selbst, die noch vor ein paar Jahren undenkbar gewesen wären. Wem es gelingt, die Möglichkeiten des “wisdom of the crowds” rasch und proaktiv für sich zu öffnen und dabei die zahlreichen Fallen zu umgehen versteht (da gibt's ein paar, glaubt's mir), kann jetzt Quantensprünge machen. Ob bei uns auf der Plattform oder mit sonst irgendeiner Crowd macht, spielt eigentlich keine Rolle. Entscheidend ist, dass man's macht, ausprobiert und für sich nutzt. Weil's irgendwann sowieso alle machen - und dann ist man plötzlich Quantensprünge hinter den anderen her. Was auch irgendwie blöd ist.

Ich wünsche auf jeden Fall viel Spass bei der Beschäftigung damit!

PS - Der hier ist einfach ein Klassiker zum Thema: https://www.youtube.com/watch?v=Z82B1zsvyZU
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PS: Wer das Gefühl hat, diesen Artikel schon mal gelesen zu haben: korrekt. Habe ihn aber immerhin aktualisiert ;)