Vielleicht war's ganz anders, vielleicht aber auch genau so: Eine Grossstadt in der Schweiz, Mitte September 2011, an einer Adresse, die sogar bei Brettspielen die höchsten Immobilienpreise erzielt. Draussen ein prächtiger Altweibersommer wie schon seit Jahren nicht mehr. Ein älterer Herr - zwei Jahre trennen ihn vom 70sten Wiegenfest - sitzt an seinem Schreibtisch und streicht sich das nach hinten gekämmte Haar glatt. Er checkt wie immer die wichtigsten Zahlen im aktuellen Wochenreporting, liest Memos durch, entscheidet, unterschreibt. Sein Büro ist riesig, die Möbel vom Feinsten. Er ist zufrieden, auch wenn Zufriedenheit auf seiner Skala schon zu den seltenen Extremgefühlen gehört, die man sich nicht alle Tage gönnt. Er hat in seinem schwierigen Job nichts wirklich falsch aber vieles richtig gemacht.

Da klingelt das Telefon - oder vielleicht ist's eine Mail - der Inhalt auf jeden Fall ist ein Keulenschlag. Was dann passiert, kann man beispielsweise hier nachlesen: er wird für einen Moment wütend und sehr laut, trifft am folgenden Tag seinen wohl letzten Karriereentscheid, packt wenig später eigenhändig drei Kisten in seinem Büro zusammen - und zehn Tage später sitzt ein Anderer auf seinem Stuhl. Das Unternehmen geht in der Folge daran, einen bisherigen Kernbereich um die Hälfte zu reduzieren und dabei 2'000 Jobs abzubauen. Eine mit grossem Aufwand frisch lancierte landesweite Image-Kampagne wird per sofort gestoppt.

Bewegte Tage bei der UBS.

Milliardenloch, eine Heerschar arbeitsloser Investmentbanker, ein neuer Konzernchef und die imagemässige Neupositionierung der grössten Bank der Schweiz. Grosse Wirkungen einer - systemisch betrachtet - unglaublich kleinen Ursache: Eines von rund 65'000 Rädchen im System "UBS" hat sich in die falsche Richtung gedreht. Ein einziger Händler hat mit ein paar Transaktionen jenseits seiner Risikolimiten und bescheidenem Manipulationsaufwand den weltweit grössten Vermögensverwalter bis in Mark erschüttert.

Wie schön wäre es, wenn man nun - nach gewissenhafter Untersuchung durch gute Leute - den Fehler im System finden und die Schuldigen (besser noch: den einen und einzigen Schuldigen) identifizieren könnte. Den Fehler würde man mit grossem Getöse und ein für alle Mal beheben und den Schuldigen langsam und qualvoll öffentlich töten (bitte nicht zuhause nachmachen, vor allem nicht die Unter-16-Jährigen). Alle würden sich freuen und könnten endlich wieder gut schlafen. Die Ordnung im System wäre wieder hergestellt.

Aber ganz so schön ist es nicht. Der Schlaf sei allen gegönnt, der eine oder andere schlechte Traum wird aber nicht zu vermeiden sein. Aus dem einfachen Grund:

Systeme neigen mit steigender Anzahl ihrer Komponenten zu Komplexität. Je mehr Bestandteile ein System hat, desto weniger lässt sich vorhersagen, welche Veränderung einer Variable zu welcher Reaktion des Gesamtsystems führt. In vielen Systemen weiss man nicht einmal, welche und wie viele Einflussfaktoren überhaupt eine Rolle spielen. Vorhersagen werden dann zu Prognosen - und wo das hinführt, erlebt man täglich bei der Wettervorhersage.

Was macht nun also der CEO eines Unternehmens, um sein komplexes System - auch wenn es aus ein paar tausend Mitarbeitern weniger besteht als die UBS - einigermassen in den Griff zu bekommen?

Es gibt den landläufigen Anspruch, dass man sich mit dem System und seinen Komponenten gründlich vertraut machen sollte, bevor man damit arbeitet. Das ist ein gut gemeinter Ratschlag und taugt als erstes Learning dieses Posts - gültig für Organisationsstrukturen, IT-Systeme, experimentelles Kochen und kriselnde Zweierbeziehungen:

Man sollte das System und seine Elemente verstehen, bevor man daran arbeitet.

Dieser Satz gilt immer. Er hilft, die Akteure vor Überraschungen und groben Fehlern zu bewahren. Allerdings stösst man damit rasch an Grenzen: Wer mit dem Faustkeil Nüsse zerklopft, kann die Zusammenhänge seines System noch einigermassen umfassend ergründen. Aber schon wer mit Ross und Wagen unterwegs ist, kann an Launen und Zicken seines im Zaumzeug eingespannten Subsystems verzweifeln. Was genau motiviert ein Pferd? Was sollte es wann gefressen haben, damit es diese Motivation optimal auf die Strassse bringt? Und wieso reagiert es heute anders als morgen? Auch in unseren Tagen, bald zweihundert Jahre nach der Blütezeit von Ross und Wagen, kann niemand die relevanten Einflussfaktoren und Variablen dieses System abschliessend aufzählen. Scheinbar einfache Systeme, die sich als hochkomplex entpuppen, wenn man nur tief genug eintaucht. Zweites Learning deshalb:

Jedes System ist komplex - man muss nur genau genug hinschauen!

Erschwerend kommt hinzu: Je höher der Anteil lebender Wesen (Menschen, im schlimmsten Fall) in einem System, desto höher seine Komplexität. Man nehme die Mitglieder eines beliebigen Teams zusammen und lege 100'000 Franken zur demokratischen und gerechten Verteilung auf den Tisch. Eine triviale Aufgabe - aber niemand auf der Welt kann vorhersagen, wer am Abend mit welchem Betrag nach Hause geht, wer künftig noch mit wem redet und welche Körperteile auf der Strecke bleiben (schon wieder Hinweise auf ein nicht jugendfreies Masaker...). Das Element "Mensch" ist ein Garant dafür, dass Systeme, an denen es beteiligt ist, immer komplex sind. Die Relativitätstheorie ist eine intellektuelle Fingerübung im Vergleich zur Struktur derartiger Systeme. Das erweitert das zweite Learning in folgendem Sinne:

Jedes System ist komplex - unter Beteiligung von Menschen sogar hochkomplex.

Was tut man nun in einer Welt, in der es offensichtlich von hochkomplexen Systemen nur so wimmelt? Man will diese Systeme steuern, ihre Elemente verstehen und ihre Funktionen zu ergründen - und stellt fest, dass selbst lebenslanges Studieren nur ein Wasserglas im Ozean bedeutet. Die Welt scheint zu komplex geworden zu sein, um verstanden zu werden. Eine eher unangenehme Erkenntnis, die drei mögliche Strategien zulässt:

  1. Zeit damit verschwenden, trotz allem das System und seine Elemente in allen Details ergründen zu wollen. Führt zu trügerischer Sicherheit, Pseudo-Expertentum und in der Folge zu regelmässig falschen Entscheidungen an den falschen Stellen des Systems.
  2. Zurücklehnen und zuschauen, was im System so alles passiert. Als Strategie besonders beliebt und durchaus unterhaltsam für alle Beteiligten. Dabei trotzdem den bemühten und beschäftigten CEO, Präsidenten, Kapitän oder eine sonstige Person des besonderen Vertrauens zu mimen, kann bei der bevorstehenden Hinrichtung strafmildernd wirken.
  3. Systeme beobachten, verinnerlichen und intuitiv versuchen, ihre Ursache-Wirkungszusammenhänge zu verstehen. Braucht den Mut, Entscheidungen zu treffen, ohne sie jemals wirklich begründen zu können. Und das Stehvermögen, Fehlentwicklungen ohne solche Begründungen überleben zu können.

Ein kleines Beispiel gefällig bei all dieser Theorie - aus dem Fussball vielleicht (inspiriert übrigens von diesem Buch)?

Strategie 1 würde für den Trainer bedeuten, Biorhythmus, Stimmungskurve, Verdauungsgewohnheiten der Spieler, Rasenbeschaffenheit, Wetterbedingungen, Störungsmöglichkeiten durch die Fans, Sonneneinstrahlung und die Psyche des Schiedrichters im Detail zu studieren - und anschliessend einen genauen Plan des Ballverlaufs für das Fussballspiel zu entwerfen. Aufwändige Strategie - wird ausser in Nordkorea derzeit nirgends praktiziert.

Strategie 2 würde für den Coach heissen, sich vor allem auf Interviews vor und nach dem Spiel, die eigene Frisur und die Verpflegungsmöglichkeiten im Stadion zu kümmern und sich dabei lautstark über die schlechten Bedingungen auf dem Rasen der Gastgeber zu beschweren. Effiziente Strategie mit einer statistischen Erfolgswahrscheinlichkeit von 50%.

Strategie 3 schliesslich würde alles bedingen, was noch übrig bleibt: die Mannschaft im Kopf richtig vorzubereiten, Muster im Spielfluss zu finden und zu trainieren, die richtige Auswechslung zur richtigen Zeit vorzunehmen und vom Spielfeldrand aus den Spielverlauf mit gezieltem Dazwischenrufen und Gestikulieren zu beeinflussen. Strategie, die trotz allem Aufwand zu gelegentlichen Erfolgen führen kann - ausserhalb von Basel allerdings kaum bekannt.

Keine Frage, was das dritte Learning ist:

Komplexe Systeme in der Tiefe zu erlernen ist Zeitverschwendung, ihre Komplexität auszublenden ist Fahrlässigkeit. Das Führen solcher Systeme bedingt ein intuitives Verständnis ihrer Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge - eine profunde Erfahrung mit ihren Funktionsmustern.

Wichtig ist, solche Fragen beantworten zu können: Was passiert dort, wenn ich hier etwas verändere? Wie reagiert mein System, wenn ich den Takt erhöhe? Welche Wirkung hat die Auswechslung eines bestimmten Elementes? Es geht darum, das Funktionieren des Systems - und nicht seinen detaillierten Aufbau - zu erkennen und zu verstehen. Es geht um Prozesse, nicht um Struktur - um Funktion, nicht um Form.

Dass die Kombination von Intuitionen und Erfahrungen möglichst vieler Beteiligter die Qualität dieser Intuition noch deutlich steigern kann, lasse ich einen Andern, Altbekannten, sagen - bei mir würde es nach Schleichwerbung für Crowdsourcing-Plattformen klingen. Unschön, bei diesem schönen Wetter.

Und das wäre dann auch schon alles für heute.

Vergesst die Learnings nicht (1. Systeme verstehen, 2. Jedes System ist komplex und 3. Funktionsintuition geht vor Strukturkenntnis) und bleibt schön jugendfrei - mindestens alle unter 16. Dann wird das Wochenende herrlich unkomplex!

Beste Grüsse,

Frank